Agile Führung bedeutet in erster Linie einen Shift im Mindset. Wir finden uns heute in einer komplexen Welt mit Unsicherheiten, Widersprüchlichkeiten und unvorhersehbaren Veränderungen wieder. Viele unserer erlernten Führungsantworten kommen aber aus einer anderen Welt, in der mechanistisches Denken vorherrscht (mehr dazu in Teil 1 dieser Artikelreihe Agile Leadership Teil 1: Den Grundstein legen). Agile Leadership verlangt eine tiefe Auseinandersetzung mit psychologischen Aspekten wie Sicherheit, Emotionen, innerlicher Motivation und einem Growth Mindset. Führungskräfte müssen sich ihrer eigenen kognitiven Verzerrungen bewusst sein und lernen, diese zu hinterfragen. In diesem Artikel lesen Sie, warum und wie eine solche Herangehensweise an Führung nicht nur die Leistungsfähigkeit eines Teams steigern kann, sondern auch Stabilität und Richtung in unsicheren Zeiten bietet.
Psychologisches Verständnis kann Führungskräften helfen, mit schwierigen Situationen besser umzugehen, sich selbst besser zu reflektieren und das Arbeitsleben Ihrer Mitarbeitenden leichter und freudvoller zu machen. Doch bitte um Vorsicht: Lassen Sie sich nicht verleiten, psychologische Analysen zu erstellen. Sie als Führungskraft haben weder die Aufgabe noch die Befugnis, ihre Mitarbeitenden zu therapieren oder zu diagnostizieren. Wissen um psychologische Grundlagen kann Ihnen aber dabei helfen, die passenden Fragen zu stellen und Situationen besser einzuschätzen.
Psychologische Aspekte sind besonders im Hinblick auf mentale Gesundheit wichtig, spielen aber immer eine bedeutende Rolle. Ohne psychologische Sicherheit funktionieren Teams nicht gut, und es ist Ihre Aufgabe als agile Führungskraft, diese zu fördern. Agile Werte und Prinzipien wie Offenheit, kontinuierliche Verbesserung, Selbstorganisation oder Engagement können nicht ohne psychologische Sicherheit, Emotionale Intelligenz, Growth Mindset oder Motivation gedacht werden.
Psychologische Sicherheit als Basis
Psychologische Sicherheit ist die absolute Grundvoraussetzung für erfolgreiche Teams. Ohne diese Sicherheit wird ein Team keine offene Gesprächs- und Feedbackkultur entwickeln, keine Fehler besprechen und nur langsam lernen und sich weiterentwickeln. Viele Führungskräfte sind in der irrigen Annahme, dass die psychologische Sicherheit in ihren Teams hervorragend ist, weil Harmonie herrscht. Wahre Sicherheit zeigt sich allerdings erst in schwierigen Situationen: wenn eine Krise ausbricht, wenn Probleme eskalieren, wenn sich Konflikte verschärfen, wenn heikle Themen besprochen werden sollen, etc.
Die Basis für psychologische Sicherheit sind Vertrauen, Transparenz und Klarheit. Als Führungskraft können Sie das ganz bewusst fördern, aber auch unbewusst zerstören. Es gibt eine Menge an kleinen Maßnahmen zur Förderung, die Sie setzen können. Beginnen Sie damit, alltägliche Arbeitssituationen mit dem Team und mit Einzelpersonen bewusst auf psychologische Sicherheit zu überprüfen. Beobachten Sie sich selbst genau und holen Sie sich Feedback ein, ob Sie mit Ihrem Verhalten die Sicherheit fördern: Fragen Sie aktiv nach Widerspruch oder anderen Meinungen? Laden Sie alle Teammitglieder gleichermaßen ein, sich an Diskussionen zu beteiligen? Behandeln Sie Menschen, die Fehler gemacht haben, schlechter als andere Teammitglieder? Zugegeben, es ist nicht immer einfach, aber die Anstrengungen zahlen sich aus: Für Ihr Team, für Ihre Organisation und auch für Sie selbst.
Für eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dem Thema empfehle ich die Bücher von Amy Edmondson und das weiterführende Praxisbuch „Psychological Safety Playbook“. In letzterem finden Führungskräfte praktische und einfach anwendbare kleine Moves, die sie zur Förderung der psychologischen Sicherheit anwenden können.
Emotionen - Nein, danke?
„Was haben Emotionen im Business verloren?“, mögen Sie nun denken. In der Arbeit geht es um sachliche Themen, rationale Entscheidungen, da haben Gefühle nichts mitzureden. Hier handelt es sich um einen Irrtum: Der Mensch ist ein emotionales Wesen, die meisten Entscheidungen treffen wir „aus dem Bauch“ und Gefühle lassen sich nun mal nicht verhindern. Wir können aber lernen, wie wir Gefühle erkennen, darauf reagieren und wie wir sie nutzen.
Gegen positive Gefühle hat ja niemand etwas: Wenn die Mitarbeitenden lachen, stolz sind, sich freuen und freundschaftlich miteinander verbunden sind. Ganz anders bei „negativen“ Gefühlen. Diese sind nicht per se negativ, aber negativ konnotiert, weil sie meistens unerwünscht sind. Angst, Trauer, Wut, Eifersucht – das geht ja gar nicht im Büro. Ich breche hier eine Lanze für die sogenannten negativen Gefühle. Vorausgesetzt, wir akzeptieren sie und lassen uns nicht davon überwältigen und sie unkontrolliert mit uns durchgehen. So muss Angst nicht lähmen, sondern kann helfen, keine zu großen Risiken einzugehen, Wut uns nicht zum “Hulk” werden lassen, sondern bei der Durchsetzungskraft helfen, und Trauer uns nicht in die Depression stürzen, sondern beim Verabschieden unterstützen.
Aber wie schafft man es, nicht von Gefühlen überwältigt zu werden? Eine praktische Übung kann helfen: Zwischen dem Reiz von außen und der eigenen Reaktion liegt ein kleiner Zeitraum, in dem wir uns bewusst entscheiden können, wie wir reagieren. Wenn wir in einem bewussten Zustand sind und nicht auf emotionalem Autopilot. Hier geht es im ersten Schritt um Selbstwahrnehmung: Welche Emotion kommt da gerade daher? Wie würde ich auf Autopilot reagieren? Welche anderen Möglichkeiten habe ich, um darauf produktiver zu reagieren? Mein Tipp: Beginnen Sie mit der Benennung der Emotionen, es gibt wesentlich mehr Gefühlszustände als „gut“ oder „schlecht“.
Als Führungskraft setzen Sie mit Ihrer emotionalen Intelligenz in Ihrem Team den Maßstab, wie mit Gefühlen umgegangen wird. Leugnen Sie eigene negative Emotionen oder stehen Sie dazu? Stellen Sie andere wegen deren Emotionen bloß oder zeigen Sie Wertschätzung? Versuchen Sie, anderen Emotionen „auszureden“ (z.B. indem Sie sagen: „Ist ja nicht so schlimm.“ oder „Du musst dich zusammenreißen!“ oder „Das wird schon wieder.“) oder akzeptieren Sie diese (z.B. indem Sie sagen: „Ich sehe, dass du wütend/traurig/ängstlich bist.“)?
Auch für dieses Thema empfehle ich weiterführende Literatur, um einen produktiven Umgang mit Emotionen zu fördern: “Gewaltfreie Kommunikation” von Marshall B. Rosenberg, “Search Inside Yourself” von Chade-Meng Tan oder “The Upside of Your Dark Side” von Todd B. Kashdan und Robert Biswas-Diener.
Motivation als bewegliches Ziel
Ich beginne wieder mit einem beliebten Irrtum: Der Glaube, dass das Verhalten von Mitarbeitenden von außen (z.B. durch Belohnung) gesteuert werden kann. Leider funktioniert das nicht. Mehr Geld, Karriereaussichten oder Lob sind zwar externe Anreize, die von den meisten Unternehmen eingesetzt werden und funktionieren können. Echte innere Motivation ist aber der stärkste Antrieb, um an Aufgaben dran zu bleiben, Hindernisse zu überwinden und Höchstleistungen zu liefern.
Als Führungskraft können Sie hier ansetzen. Statt „Karotten“ hinzuhängen (vage Aussichten auf Belohnungen in der Zukunft) können Sie die Rahmenbedingungen so verändern, dass Ihr Team Sinn und Nutzen aus der Arbeit zieht. Dafür müssen Sie mit ihnen reden und herausfinden, woraus genau die Menschen in Ihrem Team Motivation beziehen. Das ist höchst individuell, bei manchen ist es vielleicht tatsächlich die Aussicht auf Karriere, bei anderen aber möglicherweise die Chance, etwas zu lernen, mit anderen gemeinsam etwas zu erschaffen, andere zu unterstützen, etc. Diese Motivatoren bleiben auch nicht gleich, sie verändern sich laufend.
Eine spielerische Möglichkeit, mehr über die Motivatoren Ihres Teams herauszufinden, sind die „Moving Motivators“ aus dem Management 3.0 Portfolio.
Growth Mindset
Carol Dweck, Psychologin und Professorin an der Stanford University, prägte den Begriff “Growth Mindset” in ihrem Buch „Mindset“. Darin definiert sie Growth Mindset als innere Überzeugung, dass Fähigkeiten, Talente und Stärken durch Anstrengung, Einsatz und Arbeit weiterentwickelt werden können. Als Gegensatz beschreibt sie das “Fixed Mindset” als Überzeugung, dass Talente und Fähigkeiten angeboren sind. Wenn man etwas nicht kann, dann bleibt das auch so, egal wie sehr man sich anstrengt. Diese Haltungen haben Auswirkung auf den Umgang mit Herausforderungen (werden begrüßt oder vermieden), Hindernissen (bleiben hartnäckig oder geben schnell auf), Kritik (wird als Lernchance gesehen oder als Katastrophe) und Erfolge anderer (werden als Inspiration oder Bedrohung wahrgenommen).
Gottseidank ist die Welt nicht nur schwarz und weiß, und auch Growth und Fixed Mindset sind je nach Kontext unterschiedlich ausgeprägt und können bewusst verändert werden. Wenn beispielsweise etwas nicht gelingt, kann ich mir selbst sagen: “Das hast du verbockt und du wirst es nie lernen.” (Fixed Mindset) oder: “Das kannst du noch nicht, da musst du noch üben.” (Growth Mindset) - und diese Antworten kann ich bewusst wählen. Probieren Sie es mal aus!
Wir übertragen unsere Überzeugungen auch auf andere, und hier wird es als Führungskraft besonders heikel, z.B. wenn Sie im Fixed Mindset einer Person absprechen, dass diese sich weiterentwickeln kann (“...wird sie nie lernen … muss jemand anderen damit betrauen … oder besser selbst erledigen …”). Im Fixed Mindset schöpfen Sie nämlich weder Ihr eigenes Potenzial noch das Ihrer Mitarbeitenden voll aus. Im Sinne einer lernenden Organisation schauen Sie einmal ganz bewusst auf Ihr Growth Mindset und wie es darum bestellt ist.
Verzerrte Welt oder verzerrte Wahrnehmung
Als ob wir noch nicht genug damit zu tun hätten, mit Komplexität produktiv umzugehen, kommt noch ein psychologischer Faktor hinzu, der uns das Leben etwas schwieriger macht, nämlich die Kognitiven Verzerrungen. Damit werden Denkmuster und Wahrnehmungsfehler bezeichnet, die unser Entscheidungsverhalten beeinflussen. In Situationen, in denen wir wahrnehmen, denken, urteilen oder uns erinnern, werden unsere Handlungen und Gedanken oft ungewollt von den vorgefassten Annahmen unseres Gehirns geprägt.Von diesen Verzerrungen gibt es eine ganze Menge (Listen mit kognitiven Verzerrungen und Beschreibungen sind im Internet zu finden, z.B. https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_kognitiver_Verzerrungen).
Es gibt mehrere Möglichkeiten, diese Verzerrungen etwas auszuhebeln, vermeiden kann man sie nicht. Hier starten wir mit Wissen - lesen Sie nach, wie sich Ihr Denken verzerren kann. Das schafft schon Bewusstsein. Der nächste Schritt ist Selbstwahrnehmung. Zum Üben können Sie beginnen, kleine alltägliche Entscheidungen bewusst zu hinterfragen. Welche Denkfallen könnten dahinter liegen? Könnte es sein, dass ich ohne ausreichende Beweise Rückschlüsse ziehe oder Annahmen treffe? Könnte es sein, dass ich die negativen Aspekte einer Situation überbewerte, bei gleichzeitiger Unterbewertung der Bedeutung der positiven Aspekte - oder umgekehrt? Könnte es sein, dass ich annehme zu wissen, was andere denken? Und schließlich können Sie in Ihre Entscheidungen mehrere Personen mit einbeziehen - durch viele unterschiedliche Perspektiven können kognitive Verzerrungen relativiert werden.
Im Sinne einer ganzheitlichen Betrachtung komplexer Systeme wie Teams, Abteilungen oder Organisationen, liefern diese psychologischen Aspekte gute Ansatzpunkte, um mit schwierigen Situationen produktiv und menschlich umzugehen. Als Führungskraft spielen Sie in Ihrem System eine bedeutende Rolle und setzen Maßstäbe für den Umgang miteinander. Es liegt in Ihrer Hand, ein Umfeld zu schaffen, das psychologische Sicherheit, Offenheit für Emotionen, innerliche Motivation und ein Growth Mindset fördert. Indem Sie sich Ihrer eigenen kognitiven Verzerrungen bewusst werden und diese aktiv hinterfragen, schaffen Sie nicht nur ein Klima des Lernens und der Weiterentwicklung, sondern auch der Reflexion und des Bewusstseins.
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